Fermer
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SNF-Forschungsprojekt

Zeiten-Räume

Literatur und Geologie nach der Romantik (1820-1890)

Freud hat drei zentrale Kränkungen" des Menschen durch die Wissenschaft ausgemacht: eine kosmologische" durch die kopernikanische Revolution, eine biologische" durch die darwinistische Evolutionstheorie und schließlich eine durch die Psychologie. In dieser Trias fehlt eine Kränkung, deren Auswirkungen auf die Moderne gar nicht überschätzt werden können: Diejenige durch die Entdeckung der geologischen Tiefenzeit", durch die der überschaubare Rahmen einer christlich verstandenen Weltgeschichte von knapp 6000 Jahren gesprengt wurde. Nun öffneten sich Zeit-Abgründe von vielen Jahrmillionen, was die temporale Dimension der menschlichen Existenz in einem ganz neuen Licht erscheinen ließ. Das Thema dieser zeitlichen Marginalisierung beschäftigte in Ansätzen bereits das 18. Jahrhundert. Breitenwirksam setzte sich die Vorstellung einer sich unendlich langsam entwickelnden Erdgeschichte allerdings erst im 19. Jahrhundert durch, und wie stark die heraufkommende Moderne dann von diesem gleichermaßen faszinierenden wie erschreckenden Blick in die Zeit-Abgründe geprägt wurde, erweist sich zunächst an der intensiven Rezeption der Werke von Naturwissenschaftern wie Georges Cuvier, Alexander von Humboldt und Charles Lyell. Dann zeigt es sich an der Fülle von populärwissenschaftlicher Literatur zum Thema (z.B. Ludwig Büchner, Bernhard Cotta, Wilhelm Bölsche). Und schließlich ist die Nachhaltigkeit der Irritation auch unübersehbar in der Literatur im engeren Sinne, von Goethe über Stifter bis Raabe; nicht zu reden von anderen Medien und Institutionen wie der bildenden Kunst und dem für das 19. Jahrhundert typischen naturhistorischen Museum.
Dieses Phänomen der Entdeckung der Tiefenzeit soll im hier vorgestellten Projekt aus der Perspektive einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Literaturwissenschaft in den Blick genommen werden. Genauer sollen die Beziehungen zwischen Literatur und Geologie im Zeitraum zwischen 1820 und 1890 im Sinne einer Poetologie des Wissens" (Joseph Vogl) untersucht werden. Das heißt, es geht darum, den Austausch von narrativen Strukturen und rhetorischen Figuren und Mustern zwischen dem geologischen und dem literarischen Diskurs näher in den Blick zu nehmen.

Von besonderem Interesse sind dabei die folgenden Punkte, von denen her deutlich wird, wie relevant das hier zu verhandelnde Gegenstandsfeld für zentrale Fragen der heraufkommenden Moderne und der modernen Ästhetik ist:
1) Depotenzierung des Subjekts: In den Narrativen der um 1800 als Wissenschaft entstehenden Geologie werden plots without man" (Gillian Beer) entworfen. In ihnen ist sowohl das einzelne menschliche Leben wie das Leben der Gattung marginalisiert, und als solche subjektlosen Plots bedeuten sie einen wichtigen Gegenpol zur Subjektzentriertheit der humanwissenschaftlichen Narrative des 19. Jahrhunderts.
2) Die Entdeckung der Langsamkeit: Die Konzeption der Tiefenzeit hat wesentlich zu tun mit der Einsicht in die unendliche Langsamkeit geologischer Prozesse; in eine Langsamkeit, die in schärfstem Gegensatz steht zum veloziferischen" (Goethe) Rhythmus der Kultur der heraufkommenden Moderne. Ist die Diskussion um die Zeitkultur der Moderne und ihre ästhetischen Implikationen oft einseitig auf die dramatische Akzeleration des Lebens fokussiert, wird hier deutlich, dass auch die Entdeckung einer unendlichen Langsamkeit von grundlegender Bedeutung ist für die Moderne (und ihre Ästhetik).
3) Apokalypse und Anti-Teleologie: Das 19. Jahrhundert ist geprägt von Großnarrativen über Anfang und Ende der neu entdeckten Erdgeschichte; beispielsweise von der (bereits von Buffon entwickelten) Theorie einer schließlichen Vereisung der Welt. Zugleich werden aber auch gerade im geologischen Diskurs Narrative entwickelt, die sich weder um Arche noch um Telos kümmern. Vielmehr berichten sie nur von einem beständigen (und nicht einmal immer gerichteten) Prozess. Gerade auch diese ,End-Losigkeit', die in einem Spannungsfeld zu jener geschichtsphilosophischen Zielgerichtetheit steht, die gemeinhin mit dem 19. Jahrhundert assoziiert wird, ist von besonderem Interesse.
4) Topographie der geologischen Zeiterfahrung: Es sind ganz bestimmte Orte und Landschaften, welche die Reflexion über die Tiefenzeit und die erdgeschichtlichen Narrative gleichsam provozieren; so z.B. die Alpen oder die vulkanischen Gebiete um Neapel. Hier ist nach der Bedeutung und den Repräsentationsweisen dieser Geo-Topoi in der Literatur des 19. Jahrhunderts zu fragen.

Ziel des Projekts ist es, anhand ausgewählter Textkonstellationen den gemeinsamen - und in der Forschung bis heute vernachlässigten - Wissensraum von Literatur und Geologie in der Zeit zwischen 1820 und 1890 zu erschließen und damit einen Beitrag zum Verständnis der Emergenz der Moderne und der modernen Ästhetik zu leisten.